20.06.2020

Nein, Schweden hat nicht die Kontrolle verloren!

 

Da einige Medien aktuell wieder reißerisch über Schweden berichten, ist es wohl notwendig, wieder einmal ein paar korrekte Informationen gegenüberzustellen.

Die medialen Holzfäller beziehen sich mit den Schlagworten „Kontrollverlust“ und „Katastrophe“ vor allem auf die erhöhten Infektionszahlen in den letzten zwei Wochen. Die Aussage ist indes sachlich falsch! Richtig müsste es heißen: In den letzten zwei Wochen sind die Testzahlen gestiegen! Dass dann auch die Infektionszahlen steigen, ist eine zwangsläufige Folge, die nicht einmal verhindert werden könnte, selbst wenn man es wollte.

 

Im Folgenden werde ich die offiziell vorliegenden Zahlen in Bezug auf die medialen Äußerungen betrachten. Diese betrachte ich aus zwei Perspektiven:

 

TEIL 1: Die Covid-Zahlen

TEIL 2: Das schwedische Sterberegister

 

Am Schluss kommt dann noch ein kurzes Fazit.

 

(Quellen zu diesem Artikel sind am Ende des Beitrages verlinkt.)

 

TEIL1: Die Covid-Zahlen

Zunächst der Vergleich der Entwicklung der erfassten Infektionen und Todesfälle: Die Infektionszahlen sind in den letzten zwei Wochen gestiegen, während die Todesfallzahlen stetig sinken. Wie passt das zusammen?

 

Genau: Gar nicht! Die Todesfallzahlen müssten den – realen – Infektionszahlen mit einem Zeitverzug von zwei bis drei Wochen folgen. Nun, das kann aus der Grafik unten noch nicht ersehen werden. Die nächsten Wochen werden darüber Aufschluss geben. Dass die Todesfallzahlen aber eine relative Unabhängigkeit von den erfassten Infektionszahlen haben, ist aber bereits ab Woche 15 zu sehen. Seitdem sinken die Todeszahlen, während die Infektionszahlen weiterhin steigen.

 

 

 

In der folgenden Grafik ist der Anteil der Covid-Positiven an der Gesamtzahl der Getesteten dargestellt. Ergebnis: Der Anteil der positiv Getesteten steigt nicht. Allerdings: Er sinkt leider auch nicht. Seit fünf Wochen liegt er relativ regelmäßig bei etwa 12 %. Daraus aber eine Schlussfolgerung zu ziehen, ist nicht möglich. Hier müsste mehr auf die Veränderung der Testanzahl pro Provinz (die stark unterschiedlich sind, sowohl in der absoluten Zahl als auch in der Veränderung der Testzahl) eingegangen werden, sowie auf die Kriterien, wer, wo und warum getestet wird. Hier fehlen mir aber die Informationen.

 

 

 

Im Folgenden ist sehr klar die Ursache der erhöhten Infektionszahlen ersichtlich: Es ist die Erhöhung der Testanzahl.

 

 

 

Unten ist das Verhältnis der Covid-Positiven in Abhängigkeit von der Testanzahl durch Verwendung von zwei Skalen noch deutlicher dargestellt. Prinzipiell hängt die Zahl der erfassten Covid-Positiven stark von der Testanzahl ab. In den Wochen 13 bis 20 war der Anteil der Covid-Positiven aber höher als aktuell.

 

TEIL 2: Sterberate

Bis hierher war es nur eine Betrachtung der erfassten Covid-Fälle. Diese allein sagt aber nur sehr wenig über Verlauf, Bedeutung und Schwere aus. Hierzu könnten Daten und Informationen aus vergangenen Infektionswellen mit Influenza- oder anderen Corona-Viren als Vergleich herangezogen werden. So unglaubhaft das klingen mag: Diese Informationen gibt es nicht! Jedenfalls nicht in einer auch nur minimalen Brauchbarkeit. Übrigens nach meiner Kenntnis in keinem Land! Es hat bisher einfach niemanden ausreichend interessiert. Noch nie wurden Influenza- oder Corona-Viren in der Form getestet oder verfolgt, wie es aktuell bei Covid getan wird!

 

Daher hilft nur ein Blick auf das Sterberegister weiter.

 

Die folgende Grafik zeigt, dass die Sterberate tendenziell, aber mit mehr oder weniger gravierenden Ausschlägen nach oben oder unten, in den letzten 30 Jahren gesunken ist. Das Jahr 2020 (Jan. bis Mai) zeigt wieder eine erhöhte Sterblichkeit. Allerdings fällt es nur besonders durch das Jahr 2019 mit einer ungewöhnlich niedrigen Sterberate auf. Die Jahre davor hatten bis Ende Mai eine ähnliche Sterblichkeit wie das Jahr 2020.

 

Was die erhöhte Sterblichkeit in Zahlen heißt, dazu komme ich später.

 

 

 

Bis zum 31.05.2020 wurden 4.618 Tote mit Covid-Bezug gemeldet (nach Sterbedatum registriert). Wenn diese Toten von den bis dahin insgesamt Gestorbenen abgezogen werden, verbleiben noch 38.203 Tote, die an anderen Ursachen verstorben sind.

 

Wenn man dieses Verhältnis (also die 38.203 Toten) mit den vergangenen 10 Jahren vergleicht, dann fällt auf, dass nur in zwei von 10 Jahren weniger Menschen verstorben sind als die 38.203 Toten in 2020. Es stellt sich also die Frage: Woran sind diese Menschen oberhalb dieser Zahl eigentlich verstorben?

 

 

 

Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass der obige Vergleich auf absoluten Zahlen beruht. Dies verzerrt die Relationen. Die schwedische Bevölkerung wächst im Schnitt pro Jahr um 1%. Seit dem Jahr 2010 ist die Bevölkerung um 10% gewachsen.

 

Unten ist derselbe Vergleich im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung dargestellt.

 

Es zeigt sich, dass nur drei von elf Jahren signifikant geringere Sterberaten von den 0,37% Nicht-Corona-Toten aufweisen. In fünf von 11 Jahren waren die Sterberaten gleich hoch oder höher als in 2020. Auch hier sieht man: Der eigentliche Ausreißer ist nicht das Jahr 2020, sondern – im positiven Sinne – das Jahr 2019.

 

 

 

Bezogen auf den Durchschnitt der letzten zehn Jahre liegt die Sterberate in 2020 um 0,01% höher als der Durchschnitt. In absoluten Zahlen entspricht das einer Zahl von 1.075 Menschen, die mehr verstorben sind als im Durchschnitt der letzten 10 Jahre. Bereinigt um die Tatsache, dass 2020 ein Schaltjahr ist, verbleiben noch 853 mehr Verstorbene über dem 10-Jahres-Durchschnitt. Übrigens, um einmal die Relation klarzumachen: 853 Tote entspricht im Durchschnitt über die letzten fünf Jahre der Anzahl der Menschen, die insgesamt an 3,2 Tagen versterben!

 

Interessant ist allerdings die Tatsache, dass diesen 853 mehr Verstorbenen 4.618 Covid-Tote gegenüberstehen...

 

 

 

Um anschaulich zu machen, wie Sondereffekte wie Schaltjahre und Bevölkerungswachstum den Vergleich verzerren, sind in der folgenden Grafik die durchschnittlichen Todeszahlen pro Tag als absolute Zahl und als Wert pro 100.000 Einwohner angegeben.

 

Es wird sichtbar, dass die Anzahl der durchschnittlichen Todesfälle pro Tag im Jahr 2020 bisher (bis 31.05.) tatsächlich höher ist, als in den vergangenen Jahren. Bereinigt um das Bevölkerungswachstum und die Schaltjahre, liegt die Sterberate aber auf einem recht normalen Niveau.

 

Statt dessen fallen eher die Jahre 2014, 2016 und vor allem 2019 im positiven Sinne aus dem Rahmen.

 

FAZIT

Im Jahr 2020 müssen wir in Schweden durchaus von einem Jahr mit einer starken Infektionswelle ausgehen. Im mehrjährigen Vergleich fällt das Jahr 2020 durchaus auf, aber dennoch nicht wirklich aus dem Rahmen.

 

Begriffe wie „Katastrophe“ oder „Kontrollverlust“ sind absolut nicht angebracht, sind irreführend, tendenziös und bar jeglichen Informationswertes.

 

Wie auch sonst es niemand kann, so kann auch ich nicht die Zukunft vorhersagen. Die fehlende Vorhersagefähigkeit kann aber für niemanden ein legitimes Argument sein, sich bereits für die Gegenwart oder die Vergangenheit Dinge aus den Fingern zu saugen und die dann auch noch als Fakten verkaufen zu wollen.

 

 

Thorsten Wiethölter am 20.06.2020

 

Quellen, auf denen die Grafiken in diesem Beitrag basieren:

 

Schwedische Gesundheitsbehörde:

https://www.folkhalsomyndigheten.se/smittskydd-beredskap/utbrott/aktuella-utbrott/covid-19/bekraftade-fall-i-sverige/

(Der Download-Link auf derSeite hat folgenden Text: Data som statistiken ovan bygger på kan laddas ner här (Excel))

 

Schwedische Gesundheitsbehörde (Anzahl Covid-Tests Schweden):

https://www.folkhalsomyndigheten.se/smittskydd-beredskap/utbrott/aktuella-utbrott/covid-19/antal-individer-som-har-testats-for-covid-19/

 

Schwedisches Statistikamt, Sterbestatistik und Bevölkerungsstatistik in den jeweiligen Rubriken)

https://www.scb.se/en/finding-statistics/statistics-by-subject-area/population/population-composition/population-statistics/